Donnerstag, 11. August 2022

Trauriges Vanilleeis

 Ich bin das jüngste, von drei Kindern. Die Position wie es ist, wenn man das größere Geschwisterkind ist, kenne ich nicht, aber die Kleinste zu sein, auf die aufgepasst wird und die beschützt wird, umso besser. 

Meine große Schwester ist gestorben und selten habe ich mich kleiner gefühlt, als in diesem Moment. Plötzlich kauerte ich auf dem Boden, war physisch ähnlich klein wie mental und versuchte zu begreifen, was ich gerade gehört habe, aber manche Dinge kann man nicht verstehen. Man kann lernen damit umzugehen, mehr nicht. Akzeptanz lernen. Wie jemand lernen kann, mit einem Bein weniger durchs Leben zu gehen, so kann man lernen, mit einem Menschen weniger an seiner Seite durchs Leben zu kommen. 


Seit zwei Wochen tüftle ich an diesem Text und komme nicht weiter, weil ich keine netten Worte finde und so eine Wut in mir herrscht. 

Sie hat mich verlassen. Sie hat Nele und mich alleine gelassen, ohne wichtige Dinge für Nele in die Wege geleitet zu haben, ohne sich nochmal gemeldet zu haben, obwohl sie wusste, dass  es nun zu Ende gehen wird und das ist so unfair! So unfassbar unfair!

Ich verzeihe viel, ich finde schnell Verständnis, ich hatte selber schwere Phasen und weiß wie viel Kraft es kosten kann und wie es ist, wenn man keine Kraft hat, aber wenn man weiß, dass man geht, dann spielt die eigene Kraft keine Rolle mehr, sondern lediglich die, die zurück bleiben werden, sollten versorgt sein. 

Aber für das Thema Verantwortung hatte sie noch nie viel übrig gehabt, bis zum letzten Moment nicht, da blieb sie sich treu.


Nun sind fünfeinhalb Wochen um und ich begann eine Doku über Freddy Mercury zu schauen und da hieß es, er suchte nach Liebe, das war ihm wichtig und im Hintergrund lief sein Song "find somebody to love"

Das saß.

Auch meine Schwester wollte einfach nur geliebt werden. Wir alle wollen nur geliebt werden. Manche können es besser zeigen, als Andere und manche erscheinen dadurch liebenswerter, was nicht stimmt, denn jeder und alle sind liebenswert, es wert geliebt zu werden!

Man muss darüber hinwegsehen und den Menschen dahinter sehen, den Menschen sehen, wie er wirklich ist, unter seiner rauen Schale, unter seinem groben Verhalten, unter seiner lauten Art, denn genau diese Menschen haben es oft am nötigsten und können es am wenigsten zeigen. 


Meine Schwester ist gestorben und es ging so verflucht schnell.

Anfang Dezember bekam sie ihre Krebs OP und erst hieß es, alles sei in Ordnung und sieben Monate später ist sie tot. 

Noch immer finde ich keine richtigen Worte, werde ich vielleicht nie. Was soll man da für Worte finden, für etwas, dass unbegreifbar ist, was man nicht fassen kann, was man nicht verstehen kann.

Wir wuchsen zusammen auf und hatten immer Probleme miteinander zu reden. Lachen konnten wir zusammen und füreinander da sein auch. Wenn etwas war, konnten wir vorher gestritten haben und uns hassen, aber ein Wort genügte, wir standen füreinander ein, bedingungslos, ohne zu fragen. 

Meine Schwester war die Person, die verrückte Sachen machte und man darüber den Kopf schüttelte und man sich hinterher dachte: "Ja, irgendwie schon cool, eigentlich gar nicht so blöde!"

Einmal schrieb sie alle möglichen Stars an, aus den 70igern, begonnen bei Uschi Obermaier, wegen ihrem Namen und ich dachte mir damals, dass das vollkommener Unsinn ist, weil bestimmt keiner antworten würde und ehrlich gesagt, ich weiß wirklich nicht ob und wer ihr geantwortet hat, aber selbst wenn es nur ein einziger war, dann hat es sich doch schon gelohnt, oder? Dann bin ich schon neidisch und denke mir: "Mensch ist das cool, sie hat sich getraut, sich die Mühe gemacht und hatte ein Unikat zurück bekommen von jemandem, der Zeitgeschichte geschrieben hat!" und vielleicht sollten wir alle mehr wie meine Schwester denken und einfach mal machen, auch wenn es vielleicht bescheuert klingt, aber ein wenig Erfolg verheißen kann und was tolles hinterher rauskommen kann, das habe ich mir vorgenommen. Einfach mal machen und dabei an sie denken.

Die Wut, die ist da noch drin in mir. Kleiner und leiser, aber noch vorhanden.

Ich habe nun Nele, das was für andere ein Kind ist, war für meine Schwester Nele

Nach Tabbi wollte ich keinen Hund mehr, wirklich nicht. Der Abschied tat so weh, es hat mich innerlich so zerrissen, dass ich keinen Hund mehr antun wollte und nun sehen sich die beiden auch noch etwas ähnlich. Nele die etwas pummelige Form von Tabbi und Tabbi wie eine Bulimikerin. Das ist hart.

Nele ist auch noch krank, braucht eventuell eine OP für beide Hinterpfoten und die Kosten machen mir Angst, oder irgendwann die Entscheidung, ob sie ihre Köfferchen packen muss oder ähnliche Dinge mit schwerer Tragweite. Ich wollte das alles nicht mehr. 

Als Nele ein kleiner niedlicher Welpe war, fragte meine Schwester, ob ich ihre Patentante sein möchte und ich meinte "Klar! Logisch! Und sie darf zu Besuch kommen und hier Urlaub machen! Und wenn Du mal ins Krankenhaus musst, hole ich sie auch sofort ab, alles kein Thema und wenn der schlimmste aller Fälle eintreten sollte, rase ich runter und packe sie ein! SOFORT rase ich runter!"

Hatte ich mehr als einmal gesagt.

Und niemals geglaubt, dass der schlimmste aller Fälle in einem Hundeleben eintreten würde.

Nicht in einer Zeitspanne, die ein Hund lebt.

Niemals.

Und nun liegt Nele neben mir.

Und manchmal steckt hinter dieser gigantischen Wut einfach nur eine unfassbar große Trauer und Schmerz.

Unfassbar großer Schmerz und der Wunsch, dass man nochmal hätte reden können und das Wissen, dass ihr gesagt wurde, sie soll doch nochmal ihre Freunde und Familie anrufen und ihre Antwort, dass sie das nicht möchte.

Und dann sitzt man da...

und kann es nicht glauben.

Und kann es nicht fassen.

Und weint.

Und weiß nicht wie man damit umgehen soll.

Und dann ist die Wut einfacher.

Als dieser unfassbare Schmerz.





Warum trauriges Vanilleeis?

Meine Schwester aß als letztes, wenn meine Infos stimmen, ein Vanilleeis. Wir werden nun ihr zu Ehren, an ihrem Geburtstag immer ein Vanilleeis gemeinsam essen und an sie denken. Das traurigste Vanilleeis der Welt.

Ach, eine Sache blieb sie mir auch noch schuldig!

Sie sagte immer, wenn sie abtritt, dann mit einer Schlagzeile in der Bildzeitung... ich weiß zwar nicht wie sie das noch schaffen möchte, aber bisher fand ich keine!